Donnerstag, 3./4. Stunde. Bereitschaftsdienst. Nichts Besonderes, nichts Bemerkenswertes, nichts Neues. Doch heute ist es anders, es lässt sich nicht leugnen, es ist Nervosität im Spiel. Was für viele unserer Kolleg*innen schon längst Schulalltag ist, ist in diesem Fall eine Premiere: Ich habe Unterricht in einer Flüchtlingsklasse, der BV1503. Und ich bin tatsächlich nervös. Ausgestattet mit verschiedenen Arbeitsaufträgen rund um den deutschen Wortschatz betrete ich das Klassenzimmer und beginne mit einer Vorstellungsrunde. An deren Ende habe ich viele Dinge gehört, die jeden Tag in der Zeitung zu lesen sind und dennoch kommen sie mir gerade jetzt und hier seltsam unwirklich vor. Vierzehn junge Menschen zwischen 16 und 20 Jahren berichten mir – teilweise auf Deutsch, teilweise auf Englisch – von tage- und wochenlangen Reisen aus Afghanistan, Palästina, Syrien oder der Türkei. Zu Fuß, mit dem Bus, mit dem Zug oder kombiniert. Einige sind vollkommen allein gereist, für andere bedeutet Deutschland die Wiedervereinigung der Familie. Was jedoch am meisten verwundert ist, dass nicht Trauer in ihren Gesichtern überwiegt, sondern die Freude darüber, hier zu sein. Befragt nach ihren ersten Eindrücken von diesem Land, erwidert ein Schüler. „Alle sind sehr, sehr nett zu uns. Alle“. Die anderen nicken. Ich werde gebeten, dass Wort „happy“ auf Deutsch zu übersetzen. Ich freue mich, dass sie so empfinden und denke gleichzeitig: Alle? Leider nicht.
Meine Auskunft, weder Brüder noch Schwestern zu haben, erzeugt staunende Gesichter und als ich erzähle, in Hamburg geboren zu sein, geht ein Raunen durch den Raum, was zu bedeuten scheint: „Mann, hat der Glück gehabt.“ Die Schülerinnen und Schüler beginnen einen Lückentext über den Hamburger Hafen auszufüllen und als die „Möwe“ trotz multilingualer Unterrichtsgestaltung nicht jedem ein Begriff zu sein scheint, will ich das Smartboard zu Hilfe nehmen. Wie so häufig, überlistet mich die Technik und ich sehe Hilfe suchend in die Runde, bis eine Schülerin (keine zwei Monate an unserer Schule) nach vorne kommt und mir auf die Sprünge hilft. Ich lache über mein eigenes technisches Unvermögen, sie lacht darüber, mir helfen zu können. Über die in Containern nach Hamburg transportierten Teppiche landen wir in einem regen Austausch über den Unterschied zwischen Matten und Teppichen und finden auch hier – dank Google Bilder – zu einem Konsens. Als ich die Rickmer Rickmers visualisiere, fragt ein Schüler: „Die sieht schön aus, wie alt ist die denn?“. Ich muss passen und werde aufgefordert, die Landungsbrücken auf dem HVV-Plan einzuzeichnen. Es klingelt zur Pause und wieder merke ich, dass dies keine Stunde war, wie ich sie kenne. Einige verlassen an mir vorbei den Raum und ich vernehme laut und deutlich: „Thank you“ oder „Danke schön“. Lange überlege ich, ob und wann ich dies zuletzt gehört habe. Andere entscheiden sich gegen eine Pause und arbeiten weiter. Das muss die intrinsische Motivation sein, von der ich schon so oft gehört habe. Ich verlasse den Raum und denke: Toll, dass ich diesen Beruf ausübe und dass ich diese Erfahrung machen konnte. jh